Mittwoch, 9. März 2011

Minigeschichte für mein Clavichord - Mit dem Ohr an der Baumrinde

Ein kleines Mädchen steht bei einem Baum.
Steht mit den Füßen fest auf dem Boden und
schlingt seine Arme um den Stamm,
schmiegt seinen Körper daran.

Es hält sein Ohr an die Baumrinde,
drückt es ganz dicht an den Baum.

Es hört in den Baum hinein.
Hört das Schnarchen der Käfer unter der Rinde.
Hört ganz tief in das Innere hinein.

Es hört hinein in den Kern,
in den ersten von hundert Ringen,
hört in die Geschichte von fünfzig Ringen.
Hört in die letzten Jahre,
die äußeren Ringe,
bis hinein in die Gegenwart,
und dann raus,
bis hinaus in die nächste Zukunft.

Es folgt den Lebenssäften des Baumes,
die tief aus der Erde,
aus den weiten Verzweigungen der Wurzeln,
den Stamm entlang
aufsteigen,
weit hinauf,
bis in die Zweige,
in die Zweigspitzen,
bis in die fest eingewickelten,
sicher verpuppten Knospen.

Es hört hinein,
in die Blüten von morgen,
in das Kommen und
die zukünftigen Blätter.

Es hört mit den Käfern und Würmern
in der Rinde, hinein,
lauscht bis in die äußersten Spitzen
im hohen Wipfel, der sich wiegt,
um sein neues Kleid
hervorzubringen.

Das Mädchen lauscht hinaus
in den Baum und in die Welt.

Der Frühling kommt.
Es vertraut der alten Weise.

Es lauscht, der Baum ächzt,
wird ganz still und es vertraut.