Samstag, 8. Januar 2011

Gelbe Blume

Vorspiel
Eine Hängebirke steht ganz nah bei den verlorenen Häusern. Ihre Blätter sind leuchtend gelb. Sie sehen aus wie an Schnüren aufgefädelte Herbstdrachen, die nun herabhängen und gelegentlich im Wind wispern.
Gras wuchert wild, satt, saftig und langhaarig. Kreuz und quer wirft es Bögen, beugt sich über den Feldrand, als hätte es das letzte Wort und beschützt nebenbei die dunkle, fette, nackte Erde.
Goldruten stehen stolz und ehrwürdig da, wie rostige Industriedenkmäler. Ihr letzter Schmuck ist ein gefiederter Kopfputz aus dem Kostümfundus einer prächtig ausgestatteten Barockoper.

Auf dem Weg gehächselte Holzstücke, im Unterholz Glasflaschen, Plastikmüll und rostige Konservendosen. Ein violetter, verrotender Gummihandschuh hält sich als verblühte Blüte in den Zweigen einer Heckenrose.
Es riecht nach Holz und Erde und ist so unerwartet warm, dass die Erde noch einmal tief und duftend ausatmet. Silbrig, verführerisch zwinkern Spinnfäden.
Die blühende Blume
Kaum sind die S-Bahn-Gleise überquert, bin die Böschung zur Wiese auf der anderen Seite hochgeklettert, schon steht sie da, die Blume:
Alleinstehend, leuchtend gelb, blühend, heute, am 5. November, um halb eins am Nachmittag. Die Sonne scheint, die Blume steht da. Für mich die letzte blühende Blume hier auf dieser Wiese. Ich leg mich zu ihr hin. Wie ein Feldforscher, der mit ihr auf Augenhöhe sein möchte.
Ihre Blüte hat 13 langfingrige Blütenblätter. Sie sieht aus wie eine Sonnenblume im Miniaturformat. 13 schmale Flügel um ein goldgelbes Blütenköpfchen, ein Blütenknopf, aus dem winzig und zart, aus kleinen gezackten Kelchen, geschnörkelt eingerollt wie Widderhörner, paarweise die Fruchtstempel herausgucken und als Locke locken. Mit dem bloßen Auge kaum zu sehen. Der Stengel ist gerade gewachsen, verjüngt sich ein wenig nach oben hin, ist aber nicht viel dicker als ein Grashalm. In der unteren Hälfte ist er dunkelrot gefärbt, nach oben hin nimmt die rote Färbung ab, verschwindet aber nicht ganz.
Die Blätter sind lang und schmal. Um ca. 1-1,5 cm versetzt, wachsen sie in alle Richtungen, entlang des Stempels. In der unteren Hälfte der Pflanze auch die Blätter dunkelrot, weiter oben wie auch der Stengel eher hellgrün. Die Blüte leuchtet, strahlt mit ihren zarten Blättchen der tiefstehenden Sonne entgegen, leuchtet auf im Licht, das auf sie fällt und lässt sich kein Gramm davon entgehen. Ihre Blätter sind himmelwärts gerichtet. Der Stengel ist von parallelnervigen Versorgungsgefässen durchzogen.
Neben der Blume
Neben der Blume befindet sich eine Ansammlung von sieben aus dem Boden auftauchenden Kieselsteinen, die teilweise mit Kalkrändern bewachsen sind, so, als hätten hier Korallen eine erste Schicht abgelagert. Moos wächst zwischen den Steinen und daneben auch Klee, mit Blättern, die weniger als 5 Millimeter Durchmesser haben.
Das Lied oder das Leid der alleinstehenden Blume (hier spinnt der Autor ein wenig herum, das erlaubt er sich nun)
Das Lied oder das Leid der alleinstehenden gelben Blume, die da steht, den Besucher empfängt und blüht, wenn alle anderen schon verblüht sind. Sie lächelt Dir entgegen.
Trockene Haut, Ekzeme, fiebersenkend, Grasmückentraum, beliebsam, würzend würzig die Wurzel und gut fürs Haar. So kommen einfach die Worte, das eine aus dem anderen hervor, kurz und angebunden.
Blüte vom Wind bewegt, schaukelnd, nachgebend und vor allem eines: Lächelnd im Land des Lächelns
 Tiere
Besucht wird sie von 1 Biene, 1 Schlupfwespe und 1 Wespe, während 1 winzige Mücke auf dem Notizbüchlein der Feldforschungs-abteilung landet und dort unschlüssig spazieren geht. Grillen im Gras versteckt, zirpen in verschiedenen Tonhöhen und Rhythmen. Sie kommen allmählich näher, zeigen sich aber nicht. Es geht rund; jeder sagt mal was. Zwischen Augenblick und Ohren fallen Blätter von den Bäumen.
Boden
Es ist schön am Boden zu liegen. Halme in der Nähe knicken, knistern und richten sich auf. Erde trägt mein Gewicht, erträgt was ich abgebe. Gras wispert. Das ist eine zärtlich lautende Tatsache. Erde berührt mich so sehr, dass ich mich erst einmal wieder aufrichten muss.
Auf dem Rücken mit ausgebreiteten Armen, das öffnet den Brustkorb und das Herz; das macht verletzlich und offen.
Ein Blick in den Himmel und es erscheint das Ebenbild eines mit ausgebreiteten Armen liegenden oder fliegenden Menschen in den Wolken. Wie hier unten so da oben. Nur für einen kurzen Moment und das Bild löst sich auf. Das war großartig und schon ist es wieder etwas anders. Eine Antwort am Himmel, gemalt von auslaufenden Kondensstreifen. Flugzeuge ziehen ihre Geraden über diese Welt.
Getrocknete Weidenblätter stecken mit der Spitze wie Pfeilspitzen im Boden. Ich richte mich auf und entdecke, dass der ganze Hang voll ist von den blühenden, gelben Blumen.
Die Eschenschwestern
Die beiden Eschen haben in den letzten zwei Tagen fast ihr gesamtes Laub abgeworfen. Als ausgebreiteter Teppich liegt es in den sich überschneidenden Umkreisen der beiden Schwestern.
Hier spiele ich auf einer Plastikflöte. Lieber tiefe Töne als hohe. Lieber lange Töne als kurze. Lieber mit dem Atem als rhythmisch. Lieber einfach als kompliziert. Lieber geradeheraus, als ausgedacht. Lieber ruhig als erregt. Keiner Idee folgend, stellt sich die Idee ein: ein Lied für die Bäume, die ihre Blätter fallen lassen und für die Blätter, die am Boden liegen.
Ich spiele für das, was ich sehe und für das, was ich nicht sehe.
Ab und zu fällt ein weiteres Blatt und noch eines. Das Fallen der Blätter begleitet mich. Blätter lösen sich erst lautlos und fallen dann.
Ich stelle mir vor, wie es ist, Gedanken fallen zu lassen. Gedanken die sich lösen wie Blätter vom Baum, dahinsegelnd, heimatlos geworden, sich um sich selber drehend wie Spindeln, die noch einmal alles um sich herumwickeln wollen und sei es auch nur ein Luftzug und dann schließlich zu Boden fallen.
Die Antwort
Die Antwort kommt aus dem Dunkeln und aus der Stille. Sie ist nicht absehbar. Sie löst nach und nach, was zu lösen ist. Ich bitte um Nachsicht und immer wieder um Geduld. Die alte Seele würde gerne ihren Menhir wieder finden und sich an ihn anlehnen. Die Antwort kommt aus der Stille und sie löst das Alte ab. Das Stillere löst das Bestehende. Löst Schmerz, alte Wunden und Beklemmung. Bindet. Verbindet.